1452: Bildprogramm des Spätmittelalters

Erstaunlich ist die Kombination und Komposition der beiden Bildthemen der Malerei: Tempelgang Mariens und Gregorsmesse erscheinen in einer Art Haus zusammengefügt. Das vorchristliche Thema im Tempel unten gipfelt in der Erscheinung Christi als Haupt der christlichen Kirche oben – eine räumliche, temporale, aber auch sakrale Hierarchie.

Die Abbildung Marias als Tempeljungfrau war sicherlich ...

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Erstaunlich ist die Kombination und Komposition der beiden Bildthemen der Malerei: Tempelgang Mariens und Gregorsmesse erscheinen in einer Art Haus zusammengefügt. Das vorchristliche Thema im Tempel unten gipfelt in der Erscheinung Christi als Haupt der christlichen Kirche oben – eine räumliche, temporale, aber auch sakrale Hierarchie.

Die Abbildung Marias als Tempeljungfrau war sicherlich der stark gestiegenen religiösen Bedeutung der Muttergottes geschuldet. So konnte die Münsterpatronin auch in der Rotunde an mehreren Stellen verehrt werden. Ihr Aufstieg zum Altar spricht für ihre Nähe zu Gott und die damit verbundene Mittlerrolle. Den Höhepunkt der Malerei bildet aber die Erscheinung des Erlösers als Schmerzensmann. Sein Anblick galt unter den nach Gnadenerwerb strebenden Gläubigen des Spätmittelalters als heilsam. Wie die Hostie wurde er als gnadenvolles Heilszeichen in der Schaudevotion verehrt. Der gemalte Passions-Christus sollte dem Betrachter als jederzeit abrufbare Gnadenquelle dienen.

Damit nimmt das Wandbild Bezug auf das Heilige Grab und dessen Funktion als Hostiengefäß. Die Haus-Form des Bildes imitiert die Gestalt des Grabbaus. Dessen Architektur bietet dem Betrachter eine eingeschränkte Sicht auf die heilsvermittelnden Inhalte von Tod und Auferstehung Christi im Inneren. Zudem war Christus im Heiligen Grab nur über die Kartage in der Hostie real präsent. Indem ihn die Malerei als Schmerzensmann permanent präsentiert, rivalisiert sie mit der Grabarchitektur und reagiert auf das Bedürfnis der Gläubigen im Spätmittelalter: Sie verlangten nach einer direkten, leicht zugänglichen Vergegenwärtigung des Heils. So wurde auch die Auferstehungssymbolik des Grabbaus überlagert von der Darstellung des leidenden und geopferten Christus im Wandbild, der den Betrachter zum Mitleiden anregen sollte. weniger anzeigen

  • Abb. 1 von 4 - Bildquelle: Katrina Weißer

    Die Gregorsmesse in der zwiebelartigen Bekrönung des Wandbildes: Die graue Steinfassung des Tempelraumes bildet die Altarstufen, auf denen Papst Gregor kniet und mit zum Gebet erhobenen Händen die Vision Christi erfährt. Der Papst ist durch die über sein Haupt gehaltene Tiara ausgezeichnet. Auf der Altarmensa sind Kelch, Messbuch, Kerzen und – anstatt Predella und Retabel – ein Sarg sichtbar, aus dem der Erlöser als halbfiguriger Schmerzensmann steigt. Hinter ihm ragt das Kreuz vor einem roten Tuch auf, das von Engeln gehalten wird. Die Engel präsentieren außerdem die Arma Christ, die Folterwerkzeuge der Passion.

  • Abb. 2 von 4 - Bildquelle: Katrina Weißer

    Die Einzeichnung der Mittelachse im Wandgemälde macht die Ausrichtung des unteren Bildraums auf den oberen sichtbar: Wie ein Pfeil zeigt der neben Maria sichtbare und genau auf der Achse platzierte Baum auf den erscheinenden Erlöser. Die Beziehung der beiden Bildfelder ist vielschichtig: Maria unten gilt als Voraussetzung des Gottessohnes oben. Sie fungiert als Mittlerin zwischen Himmel und Erde und wurde wahrscheinlich als solche auch vor dem Wandgemälde von den Gläubigen angebetet.

  • Abb. 3 von 4 - Bildquelle: Katrina Weißer

    Das Altargemälde im Bildinneren hat die gleiche zwiebelartige Bekrönung wie die gesamte Wandmalerei. Es zeigt im unteren Teil Mose mit den Gesetzestafeln, der wie der Schmerzensmann in der Gregorsmesse die Arme ausbreitet. Mose als Gesetzesverkünder des Alten Testaments kann also typologisches Vorbild sein für Christus, der die gleiche Funktion für das Neue Testament ausübt. Über Mose ist vermutlich der Prophet Jesaja zu sehen, der als erster den Messias prophezeite. Seine als Schriftband verbildlichte Vorhersage erfüllt sich wiederum in der Erscheinung des Erlösers in der Gregorsmesse im oberen Bildfeld der Wandmalerei.

  • Abb. 4 von 4 - Bildquelle: Katrina Weißer

    Durch seine Gestalt als Haus mit Zeltdacht, das im Querschnitt Einblick in sein Inneres gibt, imitiert das Wandbild die Form des Hl. Grabes. Wie jenes mit seinem Maßwerk generiert die Malerei mithilfe ihrer illusionistischen Rahmung ein System von Öffnungen und Durchblicken. Die Gegenüberstellung zeigt, dass die Malerei durch ihre gegenüberliegende Anbringung in einen Dialog mit dem Grabbau tritt. Daraus erwächst ein enges und zugleich konfrontatives Verhältnis der beiden Objekte. So baut das Bild ein komplexes Bedeutungsgeflecht auf und nimmt eine systematische Re-Interpretation des Grabes vor.