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Bachelorarbeit: Jean-Baptiste Bertrands Ophelia: Die Autopsie eines Mythos

Ein Abstract zur Bachelorarbeit von Emma Bohn

Ophelia ist eine der bekanntesten Frauenfiguren aus William Shakespeares Œuvre und entwickelte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auch zu einem beliebten Sujet der Maler des Fin de Siècle. Als charakteristischer Darstellungsmoment etablierte sich dabei der tragische Wassertod der Figur, welcher textuell nur indirekt und ambig – wahlweise als Unfall oder Suizid interpretierbar – überliefert wurde, weshalb die visuelle Repräsentation dieses Schlüsselmoments die Vorstellung Ophelias im kulturellen Gedächtnis bis heute maßgeblich prägt. Bedeutende Künstler wie Eugène Delacroix oder John Everett Millais konstruierten mit ihren Opheliendarstellungen den Mythos einer ätherischen jungen Schönheit, die im Moment ihres Todes zur unschuldigen femme fragile idealisiert wird. Dabei gerät die ambivalente Charakterisierung Ophelias aus dem Ursprungstext Hamlet, in dem sie durch zweideutige Formulierungen stets zwischen dem Archetyp der femme fragile und dessen Pendant, der femme fatale, oszillierte, zunehmend in Vergessenheit.

Diese künstlerische ‚Verharmlosung‘ Ophelias geht ikonografisch mit einer ästhetisierten Darstellung ihres Leichnams einher, der durch die träumerisch-entrückten Gesichtszüge zumeist nicht unmittelbar als solcher zu erkennen ist, sondern auch als noch lebendiger Körper gelesen werden kann. Die Opheliendarstellung des französischen Malers Jean Baptiste-Bertrand aus dem Jahr 1872 bricht mit dieser Tradition, da seine Ophelia nicht als zweideutig zwischen Tod und Traum oszillierend, sondern als unmissverständlich toter Körper inszeniert wird. Aufgrund dieses Bruchs mit der konventionellen Ikonografie Ophelias stellte sich im Rahmen dieser Abschlussarbeit die Frage, ob dadurch die einseitige Mythologisierung der Figur als tragische femme fragile potenziert oder gestört wird. In einem interdisziplinären Analyseansatz wurden hierzu die kultursemiotischen Überlegungen Roland Barthes zur Mythenbildung als theoretische Basis für die aspektgeleitete Analyse des Werks angewendet. Barthes geht davon aus, dass dem zu mythologisierende Gegenstand zunächst seine ursprüngliche Bedeutung und sein historischer Kontext entzogen wird, um in seiner daraus resultierenden sinnentleerten Form dann in einem zweiten Schritt mit neuer Bedeutung angefüllt zu werden. Das Ergebnis dieses Umkodierungsprozesses ist ein vermeintlich ‚natürlicher‘, tatsächlich aber hochgradig konstruierter Mythos. Dieser Logik folgend postuliert die der Arbeit zugrundeliegende These, dass Jean-Baptiste Bertrand in seinem Gemälde Ophelia die titelgebende Figur ihrer literarischen Komplexität beraubt, um das im Fin de Siècle gesellschaftlich konstruierte Ideal der Frau als jungfräuliche femme fragile zu naturalisieren. Dabei reizt er auf formalästhetischer Ebene die Grenzen des ästhetisierten Todes aus, wobei ebendiese gesteigerte Morbidität der Figur schlussendlich ihre Mythologisierung potenziert.

Zur Überprüfung dieser Annahme wurde zunächst die Sinnentleerung der Figur durch ihre Isolierung aus dem narrativen Kontinuum der Tragödie zugunsten der singulären Momentaufnahme ihres Leichnams in der künstlerischen Darstellung begründet. Die nachfolgende Analyse befasste sich darauf aufbauend mit der mythoskonstituierenden Aufladung der nun als sinnentleert etablierten Ophelia. Dazu wurde das Potenzial spezifischer Darstellungsaspekte als Projektionsflächen für historische Weiblichkeitsentwürfe des Fin de Siècle aufgezeigt. Die im Zuge dessen herausgearbeiteten Bedeutungszuschreibungen umfassen Ophelia als dem Wasser gleiches, instabiles Gefühlswesen; Ophelia als durch die Wassertaufe im Tod sakralisierte Maria Magdalena; Ophelia als das viktorianische Weiblichkeitsideal der tugendhaften Selbstaufopferung sowie Ophelia als nekrophiles Lustobjekt. Die ostentative Leblosigkeit in der Darstellung der Figur unterstützt diese Weiblichkeitskonstruktionen. So betont die absolute Negierung der Handlungsmacht Ophelias im Tod die Attribute Passivität und Schwäche, welche sich als Konstanten durch ebendiese Weiblichkeitskonstruktionen ziehen. Ferner erleichtert der Umstand des Todes, der mit einem Persönlichkeitsverlust beziehungsweise der Reduzierung der Verstorbenen auf eine leblose ‚Hülle‘ einhergeht, den Aspekt der Sinnentleerung, indem er problemlos Zuschreibungen von außen zulässt. Folglich bestätigte sich in der Analyse die eingangs aufgestellte These, da sich zeigte, wie die unmissverständliche Kenntlichmachung Ophelias als Leichnam bei Bertrand sie auf perfide Weise zur ultimativen Projektionsfläche für eine der femme fragile entsprechenden Vorstellung passiver, tugendhafter und engelsgleicher Weiblichkeit machte.

Jean-Baptiste Bertrand: Ophelia, 1872, Öl auf Leinwand
Bildquelle: flickr, Benutzer Gandalf’s Gallery, CC Creative Commons Lizenz, Link zur Datei auf flickr

Im Zuge ihres Bachelorstudiums befasste sich Emma Bohn vorrangig mit Fragestellungen der Geschlechterrepräsentation in der Kunst, wobei sie sich in dieser Hinsicht insbesondere für das Fin de Siècle sowie die Frühe Neuzeit interessierte. Nach dem Abschluss ihres Bachelors im Frühjahr 2023 mit der in diesem Artikel vorgestellten Arbeit studiert sie aktuell im konsekutiven Masterstudiengang weiterhin Literatur-Kunst-Medien an der Universität Konstanz. Ihren Schwerpunkt hat sie dabei auf die Kunstwissenschaft gelegt, aktuell arbeitet sie jedoch an einer medienwissenschaftlichen Analyse der Männlichkeitsrepräsentation im kannibalistischen Horrorfilm.

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