Vom literarischen Epos zur Bildergeschichte

Wolfram von Eschenbachs Parzival entstand zu Beginn des 13. Jahrhunderts, also ziemlich genau 100 Jahre vor den Fresken im Haus zur Kunkel. Über Wolfram selbst ist wenig bekannt. Es gibt keine Urkunden oder biographische Quellen. Was wir über seine Person wissen, ist größtenteils seinem eigenen literarischen Werk und dem seiner Zeitgenossen entnommen. Auch im Parzival wird die Handlung immer wieder durch persönliche Anmerkungen des Erzählers unterbrochen („Dem Rittertum gehöre ich an durch Geburt und Erziehung“, 115, 11). Nicht alles darf man freilich wörtlich auf den historischen Autor beziehen.

Der Text des Parzival, der sehr detailgetreu und bildhaft berichtet, erzählt eine kontinuierliche Geschichte. Im Zentrum steht der Lebensweg Parzivals von seiner Geburt bis zu seiner Berufung zum Gralsherrscher. Dem vorangestellt ist die Geschichte seiner Eltern Gachmuret und Herzeloyde. Die eingestreuten Kommentare Wolframs ergänzen die Erzählung, stellen einen Bezug zu seinem Leben dar und betonen das Exemplarische der Charaktere. In der Logik des Rittertums muss sich der Ritter die Liebe seiner Dame über die Tapferkeit im Kampf verdienen. Bereits Wolframs Epos leuchtet in diesem Rahmen die wechselvolle Beziehung der Geschlechter aus, eine Verschiebung des Fokus, die in der Szenenauswahl des Konstanzer Zyklus noch einmal gesteigert erscheint.

Im Gegensatz zur großen Textfülle des Epos kommen die Konstanzer Fresken ganz ohne Text aus. Auch die Bildstreifen erzählen eine Geschichte und müssen gelesen werden, funktionieren aber ganz anders als der Text: Zunächst ist nicht das gesamte Epos dargestellt, sondern lediglich eine Auswahl von Szenen aus den Büchern zwei bis sechs. Sprünge in der Erzählung müssen vom Betrachter mit Inhalt gefüllt werden. Ob dabei auf Wolframs Erzählung oder die eigene Phantasie zurückgegriffen wird, hängt in erster Linie von der Textkenntnis des Rezipienten ab. Die Bilder stellen daher in doppelter Hinsicht eine Neuinterpretation des Textes dar: bereits durch die Auswahl der gezeigten Szenen wird vom Maler ein bestimmter Aspekt hervorgehoben, nämlich der Weg des Parzival vom unbedarften Jungen zum Artussritter. Darüber hinaus bleibt auch für den Betrachter noch Spielraum bei der Konkretisierung und Deutung der einzelnen Szenen.