Bildlogik – ein mittelalterlicher „Bild-Text“

Das Konstanzer Parzival-Fresko stellt nur einen Bruchteil der Episoden dar, die wir in Wolframs Epos finden. Und doch bringt die Übertragung vom sprachlichen Medium in das des Bildes nicht nur eine Reduzierung auf Schlüsselszenen mit sich, sondern auch die Möglichkeit, die Geschichte neu zu interpretieren und in ihrer erzählerischen Komposition erstmals wirklich zu ‚überschauen‘. Die literarisch-lineare Rezeption eines langen Heldenepos erschwert das Bemerken von szenischen und motivischen Analogien, Variationen und Kontrastierungen. Diese fallen im Bilderzyklus - durch seine synoptische Qualität – jedoch sofort ins Auge. So konnte, als noch alle Szenen der Wandmalerei zu sehen waren, Parzivals Entwicklung durch vergleichendes Schauen leicht nachvollzogen werden. Man vergleiche etwa die Tischszenen: Parzival ist zuerst nur Zuschauer an der Artustafel, dann lernender Gast an Gurnemanz’ Tafel und sitzt vermutlich schließlich mittig platziert beim nicht mehr erhaltenen Gralsmahl. Ähnlich knn man die Episoden mit Bett oder die zahlreichen Kampfszenen mit ihren kleinen, aber entscheidenden Unterschieden und an ihren jeweils spezifischen Verortungen innerhalb des Gesamtbildes wahrnehmen.

Weiter an Komplexität gewinnt die Wandmalerei durch die Vieldeutigkeit ihrer bildlichen Zeichen. Wie bereits in den Beschreibungen der dargestellten Parzival-Episoden gezeigt, führen manche Bilderszenen zwei Episoden des Epos zusammen und können auf bereits Geschehenes zurückverweisen oder auf spätere Aventüren hindeuten. Doch das Parzival-Fresko ist nicht nur in seinen Teilstücken durch Anspielungen und formale Entsprechungen vernetzt, sondern steht gleichzeitig auch in zahlreichen Bezügen zu den weiteren Wandmalereien im selben Haus. Auch wenn sie nicht alle von einem Maler ausgeführt sein können (vgl. Saurma 2002, S. 307), beziehen sie sich in ihrer inhaltlichen Nähe (Betonung von Körperlichkeit und außergewöhnlich viele Frauendarstellungen) und stilistischen Ähnlichkeit aufeinander. Genau dieser ‚heraldische Stil‘ mit seiner heiter-vornehmen Reduktion und der Betonung der Umrisslinie verbindet die Fresken des Kunkel-Hauses zusätzlich noch mit den zur gleichen Zeit ebenfalls in der Region entstandenen, berühmten Liederhandschriften: dem Codex Manesse und der Weingartner Liederhandschrift.

Wenn die Besitzer und Bewohner des Hauses, die Wandmalereien stolz ihren Besuchern zeigten und erklärten, mögen die Geschichten immer wieder neu erzählt worden sein. Dass die schönen Damen auf den Wänden neben Prahlereien mit Belesenheit und Kennerschaft auch zu manch zotigem Männerwitz eingeladen haben oder gar amouröse Abenteuer stimulieren und legitimieren konnten, ist natürlich nicht beweisbar, aber auch nicht von der Hand zu weisen.

Im Weiteren sollen hier vier ‚Lesarten‘ vorgestellt werden, nach denen das Parzivalfresko interpretiert werden kann.