Mehr amor carnalis als Caritas ?

Die Konstanzer Parzivaldarstellungen können zweifellos als ritterliche Karriere-Story mit Rückschluss auf den Auftraggeber, sowie als heilsgeschichtliches Tugendbeispiel interpretiert werden. Darüberhinaus fällt jedoch auf, dass hier besonders viele Aventüren dargestellt sind, in denen Frauen und ganz besonders deren Körper eine Rolle spielen. Neben den beiden im Bett dargestellten Frauen (die gebärende Mutter und die erste, unwillige Bettgefährtin) war vor der teilweisen Zerstörung des Fresko mit größter Wahrscheinlichkeit auch die erste Nacht mit Condwiramurs (ein krampfhaft keusch gehaltenes ‚erstes Date‘) und vielleicht auch die spätere Hochzeitnacht mit ihr zu sehen. Es sind also zumeist Frauen, die den Konstanzer Parzival motivieren. Die Frage, ob der Titelheld auf diesem Fresko nicht vielleicht mindestens ebenso sehr der leiblichen Minne hinterherjagt wie der christlichen Tugend der caritas, ist also nicht ganz von der Hand zu weisen.

Diese Tendenz teilt das Fresko mit anderen kulturellen Zeugnissen aus dem Konstanz seiner Zeit. An erste Stelle ist da die „Minnelehre“ des Johann von Konstanz zu nennen, die wenige Jahre vor den Kunkel-Fresken entstand und als literarischer Ratgeber praktische Ratschläge in Sachen Liebe gibt. Die „Minnelehre“ ist als Anhang der ebenfalls in Konstanz entstandenen Weingartner Liederhandschrift, einer der bekanntesten Minnelieder-Sammlungen überhaupt, erhalten. Ganz besonders jedoch scheint das Streitgedicht „Von dem Ritter und von dem Pfaffen“ des Heinzelin von Konstanz, das zur selben Zeit wie die Parzivalfresken entstand, wie zum Vortrag im Angesicht des Kunkel-Parzivals verfasst zu sein. Es lässt zwei Frauen die Frage erörtern, ob ein Ritter oder ein weltlicher Kleriker, also ein nicht in der Seelsorge tätiger Geistlicher, als Liebhaber vorzuziehen sei. Eine der beiden bringt dabei das Argument vor, das auch die erotischen Aspekte der Fresken im geistlich-repräsentativen Haus zur Kunkel ganz lapidar entschuldigt: „ein pfaffe ist als ein ander man von fleisch unde von bein.“ (Pfeiffer, 1852, S. 109)

Einmal auf die Spur solcher Auslegungen gesetzt, sei hier kurz eine letzte übergreifende Beobachtung erlaubt. Das zentrale Bildfeld der Weberinnen zeigt eine rot(!) gekleidete Frau, die direkt über ihrem Schoß Stoff zerschneidet. Ihr direkt gegenüber in der Mitte des Parzivalfreskos ist Parzival zu sehen: auf dem Tisch liegt ein Fisch, der sich planimetrisch betrachtet auf der Höhe seines Geschlechts befindet – und das in einer Episode, in der er im Roman ausdrücklich entkleidet und in all seiner Jünglingspracht von jungen Mägden gebadet wird. Geht es da zu weit, beim Fisch an Ichthyo-Phallik, beim zerschnittenen Stoff im Schoß an das durchstoßene hymen zu denken? Lässt man diese Gedanken zu, so kommt es in der Mitte des Raumes, sozusagen im Geist des Betrachters zum hieros gamos von vita activa und vita contemplativa. Dass dies durchaus ein fruchtbarer Gedanke sein kann, zeigt die nächste Weberin in der Abfolge: sie sitzt mit auffallend dickem, vorgestrecktem Bauch da und fertigt stolz ‚Täschlein‘. Ein „tumber Tor“, wer Böses dabei denkt?