Tugendideal

Die "Frau an der Kunkel" ist ein Motiv, das sich durch die Kunstgeschichte zieht und als früheste Protagonistin Eva kennt. Maria, von deren kontemplativen Spinnarbeiten die apokryphen Evangelien berichten, ist als neue Eva die positive Umdeutung des negativen Urbilds. Konstant bleibt die Zuordnung zu Gender-Vorstellungen: Noch das Grimmsche Wörterbuch definiert die Spindel als ... mehr anzeigenDie "Frau an der Kunkel" ist ein Motiv, das sich durch die Kunstgeschichte zieht und als früheste Protagonistin Eva kennt. Maria, von deren kontemplativen Spinnarbeiten die apokryphen Evangelien berichten, ist als neue Eva die positive Umdeutung des negativen Urbilds. Konstant bleibt die Zuordnung zu Gender-Vorstellungen: Noch das Grimmsche Wörterbuch definiert die Spindel als "hervorragendstes frauengerät" und das Spinnen als "die den frauen eigenthümlichste art sich zu beschäftigen".

Vor allem Lieselotte E. Saurma-Jeltsch aber auch schon Werner Wunderlich haben daraus die These abgeleitet, dass die Weberinnen im Haus zur Kunkel ein weibliches Tugendideal propagieren. Die Bilder sollen demnach mit Bezug auf die Ikonographie der spinnenden Eva und Maria weibliche Rollenbilder und deren theologische Konnotation vor Augen führen. Auch adligen Frauen wird das Spinnen als kontemplative Beschäftigung empfohlen. Aus dieser Lesart leitet Saurma-Jeltsch ein Gesamtprogramm des Raums ab: die Weberinnen stehen demnach für die tugendhafte vita contemplativa, der Parzivalzyklus mit seinem Tugendideal eines christlichen Ritters für die komplementäre, aber ebenso positiv bewertete vita activa. weniger anzeigen

  • Abb. 1 von 5 - Bildquelle: The Walters Art Museum, Ms. W.34, f. 22v, Carrow Psalter (Nutzung gemäß CC BY-NC-SA 3.0)

    Carrow, Psalter und Stundenbuch, Ein Engel rüstet Adam und Eva mit Spaten und Spinnrocken aus, 1250, Buchmalerei

    Es gibt zahlreiche bildliche Darstellungen, welche die aus dem Paradies vertriebene Eva am Spinnrocken zeigen. Das Werkzeug wurde so zum typischen Attribut, welches die weltliche Arbeit der Frau charakterisiert. Die Arbeit der Stammmutter Eva hat einen moralisierenden Unterton, weil sie zu den Strafen gehört, die dem ersten Menschenpaar nach dem Sündenfall auferlegt wurden.

  • Abb. 2 von 5 - Bildquelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 16, f. 13v, Bibel AT, dt.: Bücher Mose, Josua, Richter, Ruth (Nutzung gemäß Public Domain Mark 1.0)

    Das erste Menschenpaar bei der Arbeit, Henfflin-Werkstatt, um 1477, Buchmalerei

  • Abb. 3 von 5 - Bildquelle: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 60, f. 4r, Historienbibel (Nutzung gemäß Public Domain Mark 1.0)

    Vertreibung aus dem Paradies; Adam und Eva bei der Arbeit, Historienbibel, um 1460, Buchmalerei

  • Abb. 4 von 5 - Bildquelle: Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg, Gm1087, Altartafel aus der Frauenkirche Nürnberg (Nutzung gemäß CC BY-NC-ND 4.0)

    Maria und Elisabeth an Spinnrocken und Garnhaspel. Jesus und Johannes der Täufer am Spiel, um 1400/1410, Altarbild

    Das Motiv von Maria an der Kunkel hat viele Dimensionen: die metaphorische Auslegung des Spinnens als "inwendige Tätigkeit" macht es zum Symbol für die vita contemplativa, die über den göttlichen Ursprung der Welt und die Lenkung der Heilsgeschichte meditiert.

  • Abb. 5 von 5 - Bildquelle: Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie

    Erfurter Meister, Maria in der Hoffnung am Spinnrocken, um 1380, Tempera auf Holz

    Auf dem Tafelbild Maria in der Hoffnung beobachtet der graubärtige Joseph durch ein Fenster der Kemenate unbemerkt die in das Spinnen versunkene Maria. Auf ihrem Leib ist das ungeborene Jesuskind in einem goldenen Strahlenkranz gemalt, über das Maria den gesponnenen Faden hinwegführt.